Über uns

Über uns

Presse



Bericht über uns in der Schweizer Familie Nr. 22 / 29.05.2019

Ein Hof fürs Leben

Eine kunterbunte Farm-Familie

Text: Susanne Rothenbacher, Fotos: René Ruis

 

Dutzende Pferde und Ponys, Maultiere, Ziegen, Schafe, Lamas, Katzen, Hunde, Hühner: Die Schweizer Franziska Schlitner und Martin Müller geben auf ihrem Lebenshof in Deutschland Tieren ein Zuhause, die anderswo nicht erwünscht waren.

Ein helles Jutzen erklingt, kurz darauf ist Pferdegetrappel zu hören. Und dann kommen sie. Manche in gestrecktem Galopp, andere in gemächlichem Trab. An der Spitze rennt ein kleines, rundliches Pony, ihm folgen seine Kollegen, bunt gescheckte Isländer, blonde Haflinger, Schimmel, Rappen, Braune in allen Grössen und Farben, mittendrin ein Maultier - und als Nachhut trotten vier Esel den Weg entlang, gefolgt von Franziska Schlitner. Wie jeden Abend ist sie auf den Hügel hinter ihrem Hof gestiegen, um den Pferden zu rufen und sie von der Weide zu holen. «Sind alle hier?», fragt ihr Mann Martin Müller, während er das Tor zum Hof schliesst. «Alle», bestätigt Franziska Schlitner. Also rund 70 Pferde und Ponys, das Maultier Rico und die vier Esel.


«Wir sind überzeugt, dass Pferde nur in einer Herde glücklich sind.» Martin Müller



Keines dieser Tiere hat das Ehepaar gekauft. Die Vierbeiner landeten bei Franziska Schlitner, 46, und Martin Müller, 66, weil deren Besitzer sie nicht mehr haben wollten oder konnten. Sei es, weil das Geld ausging, sei es, weil das Pferd wegen einer Verletzung nicht mehr reitbar war, plötzlich Verhaltensstörungen zeigte oder als Fohlen unüberlegt vor dem Schlachthof gerettet wurde - und man nicht wusste, wohin damit. Manche, etwa die Eselin Pepita, das Shetlandpony Ulysse oder die blinde Stute Cindy, leben seit fast 20 Jahren in der Obhut von Franziska Schlitner.


Während sich die Herde über ihre abendlichen Heu- und Strohportionen hermacht, versorgt das Ehepaar die Lamas und die Schafe, bringt die Ziegen in ihr Nachtquartier, füttert die Hühner und Kaninchen. Dann kehrt Ruhe ein auf dem Hof Birkenweiler, der eingebettet in ein lauschiges Tal nahe dem deutschen Dorf Frickingen liegt. Zeit für eine Tasse Tee, Zeit, am Gartentisch zu sitzen und mit einer Katze oder einem Huhn auf dem Schoss den Blick über die kunterbunte Pferdeherde schweifen zu lassen, Rückschau zu halten, Erlebnisse auszutauschen, einfach miteinander zu sein.


Die Kinder kommen wieder
Noch am Tag zuvor füllten fröhliche Kinderstimmen die Luft. Voller Hingabe striegelten 16 Mädchen und Buben die letzten Winterhaare aus flauschigen Ponyfellen und flochten Zöpfe in Mähnen. Kinder und Ponys gingen zusammen spazieren oder übten in der grossen Halle, respektvoll miteinander zu kommunizieren. Fünf Tage lang durften die Mädchen und Buben ihr «persönliches» Pflegepony betreuen, durften auf den grösseren Tieren reiten, bis zum Umfallen auf dem Trampolin vor dem Haus hüpfen oder mit der Hilfe von Franziska Schlitners Mutter Marlies, 86, Glücksbringer aus Speckstein schnitzen. Mehrmals im Jahr bieten Franziska Schlitner und Martin Müller auf dem Hof Birkenweiler Ferienlager für Kinder an. Die meisten von ihnen fahren jeweils mit Wehmut nach Hause - und schwören, im nächsten Jahr wieder zu kommen. «Weil», wie die 13-jährige Eliane Schnellmann sagt, «die Atmosphäre hier einfach wunderschön ist.» «Viele kommen tatsächlich wieder», sagt Franziska Schlitner. Ihr Mann Martin Müller, der bis vor einem Jahr als Pilot Passagiermaschinen geflogen ist, nickt. Und meint verschmitzt: «Mir ging es ja ähnlich. Bevor ich Franziska kennenlernte, hätte ich nie gedacht, dass ich neben der Fliegerei in die Tierbetreuung rutsche und als Rentner Freude daran finde, Ställe auszumisten oder kilometerlange Weidezäune aufzustellen.»


Entspannt strecken die beiden die Beine aus und geniessen die Abendsonne. Dass sie eine Woche lang fast Tag und Nacht am Schuften waren, ist ihnen nicht anzumerken. Manchmal nachdenklich, manchmal voller Humor, beginnen sie aus ihrem Alltag zu erzählen, kramen Kindheitserinnerungen hervor, reden über die Philosophie, die ihrem Projekt zugrunde liegt, über die Geschichte des einen oder anderen Pferdes, das sie aufgenommen haben, über die Hühner - mittlerweile sind es über 40, die Eier legen dürfen, aber nicht müssen - und schildern schliesslich, wie es dazu kam, dass sie vor vier Jahren mit all ihren Tieren die Schweiz verlassen und in der Bodenseeregion, 45 Autominuten vom Grenzübergang Thayngen bei Schaffhausen entfernt, neu angefangen haben.

"Ich schuf einen Ort, der Raum bietet für Begegnungen zwischen Mensch und Tier." Franziska Schlitner

Alle tragen ihren Teil bei
Tiere, Kinder und kreativ tätig zu sein, sagt Franziska Schlitner, seien schon immer «ihr Ding» gewesen. Geweckt wurden diese Leidenschaften in ihrer eigenen Kindheit. «Meine Mutter führte in Kilchberg am Zürichsee eine Tierarztpraxis, mein Vater in der Stadt ein Geschäft für Holzspielsachen und Papierwaren. Ich bin die jüngste von vier Geschwistern, ein ‹Nachzügerli›, und verbrachte meine freie Zeit entweder in der Praxis meiner Mutter oder im Laden meines Vaters.»

Trotzdem wollte sie nach der Matura nicht in die Fussstapfen ihrer Eltern treten. «Eine Freundin hat mich für Akupunktur begeistert. Mein Plan war, in die USA zu reisen und dort Akupunktur zu studieren.» Dafür musste sie zuerst Geld verdienen. Am Paracelsus-Spital in Richterswil fand sie als Hilfspflegerin eine Stelle. Und traf die erste grosse Liebe ihres Lebens. Anstatt nach Amerika zog sie mit ihrem Partner, einem Arzt, ins Tessin, 2003, nur wenige Jahre später, ins Toggenburg. «Wir hielten schon damals zahlreiche Tiere, deshalb suchten wir einen Hof mit viel Land.»

"Die Pferde und Ponys lehren Kinder, dass Tiere beseelte Wesen sind." Franziska Schlitner

Direkt an der Schwägalpstrasse wurden sie fündig. Franziska Schlitner begann, ihre Vorstellungen eines «Lebenshofs», wie sie ihr Projekt nennt, umzusetzen. «Ich wollte einen Ort schaffen, wo in erster Linie Pferde und Ponys, die aus irgendeinem Grund nicht mehr erwünscht waren, den Rest ihres Lebens verbringen können.» Gleichzeitig sollte dieser Ort Raum bieten für Begegnungen zwischen Mensch und Tier. «Die Pferde haben bei uns eine Aufgabe. Ihren Möglichkeiten entsprechend arbeiten sie, vor allem mit Kindern», sagt Franziska Schlitner. Ein feines Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. «Deshalb halte ich nicht viel vom Begriff ‹Gnadenhof›. Die Pferde und Ponys sind nicht von unserer Gnade abhängig, sie tragen zu ihrem Lebensunterhalt bei. Vor allem aber lehren sie die Kinder, dass Tiere beseelte Wesen sind, die ein Recht darauf haben, mit Würde und Anstand behandelt zu werden.»Neuer Tex

Bald wurden die Feriencamps auf Franziska Schlitners Lebenshof im Toggenburg zum Geheimtipp. Sie selbst reihte Ausbildung an Ausbildung: Freizeitreitertrainerin, Tierpsychologin, Bio-Landwirtin. Der Lebenshof florierte, privat aber schlitterte die Unermüdliche in eine Krise. «Mein damaliger Partner und ich trennten uns. In jener Zeit war ich nah daran, den Hof aufzugeben.» Nicht zuletzt wurde auch der starke Verkehr auf der Schwägalpstrasse zur Belastung. «Ich hatte ständig Angst, dass eines der Pferde - oder schlimmer noch, ein Kind - angefahren wird.» Doch ihr Ex-Partner, der sie bis heute unterstützt, sowie ihr jetziger Mann Martin Müller, der bald nach der Trennung in ihr Leben getreten war, bestärkten sie darin, weiterzumachen. «Im Toggenburg aber wollte ich nicht bleiben. Deshalb setzte ich mich eines Morgens an den Computer, googelte nach Pferdeimmobilien und fand die Ausschreibung des Hofs Birt


kenweiler in Frickingen.» Zwei Häuser, eine Halle, ein grosser Stall, 33 Hektaren Land. «So was findet man in der Schweiz nicht», sagt Martin Müller. «Also warf ich mein ganzes Verhandlungsgeschick in die Waagschale, damit wir die Zusage kriegten.»


Mit offenen Armen empfangen


Im Dezember 2014 war es so weit. Eine Karawane von zwei Lastwagen und sechs Pferdeanhängern setzte sich Richtung Deutschland in Bewegung. Dem Umzug war ein logistischer Kraftakt vorausgegangen. «Alle Pferde, Ponys und Esel brauchten ein Gesundheitszeugnis. Das ist aber nur 48 Stunden gültig. Für die Lamas verlangten die deutschen Behörden einen Bluttest, die Hühner mussten eine Schluckimpfung haben - von der niemand wusste, wo sie erhältlich ist», blickt Franziska Schlitner zurück. Der Tierarzt sei am Verzweifeln gewesen. «Er fragte mich, müssen die Hühner wirklich mit?» Ja, sie mussten. «Am Schluss sind alle Tiere heil in Frickingen angelangt.»

Die Dorfbevölkerung habe sie «mit offenen Armen empfangen», sagt Franziska Schlitner. «Die Leute spazieren vorbei, bringen Äpfel für die Pferde und freuen sich, dass der Hof Birkenweiler voller Leben ist.» Das färbe ab: «Wir fühlen uns hier rundum aufgehoben.» Obwohl der Neuanfang mit viel Arbeit verbunden war. Das Haus für die Kinderlager musste hergerichtet, der Stall umgebaut werden. «Es war einer der üblichen Boxenställe», erzählt Martin Müller. «Wir rissen die meisten der Boxen heraus und bauten einen grossen Auslauf. Weil wir überzeugt davon sind, dass Pferde nur in einer Herde ausgeglichen und glücklich sind.»


Längst haben sich Schatten über die sanften Hügel rund um den Hof gelegt. Ab und zu ist von den Pferden ein tiefer, zufriedener Seufzer zu hören. Zeit, ins Bett zu gehen. Bereits in zwei Tagen startet ein neues Feriencamp. Freiwillige Helfer werden ihr Quartier beziehen und zwanzig aufgeregte Kinder in Empfang nehmen. Franziska Schlitner wird jedem von ihnen ein Pflegepony zuteilen, die Hofregeln erklären und dann umsichtig dafür sorgen, dass alle eine unvergessliche Woche erleben können.

Share by: